Interview: Warum sich junge Menschen von der Politik abwenden

Interview: Warum sich junge Menschen von der Politik abwenden

Last Updated on 2024-09-13
wienerzeitung.at / Verena Franke, 05.09.2024

Viele junge Menschen sind enttäuscht von der Politik. Sie fühlen sich nicht repräsentiert und haben das Gefühl, dass ihre Interessen vernachlässigt werden. Interessieren sie sich deshalb nicht für Politik? Die WZ hat Jugendforscher Zentner befragt.

Verena Franke: Interessieren sich junge Menschen generell weniger für Politik?
Manfred Zentner: So pauschal kann man das nicht sagen. In der Ö3-Jugendstudie geben zwei Drittel der jungen Menschen an, sich für Politik zu interessieren, während rund 25 Prozent sagen, dass ihnen Politik völlig egal sei. Nur 14 Prozent fühlen sich von den Parteien gut vertreten. Interessanterweise trifft man häufig auf junge Menschen, die zwar behaupten, sie interessieren sich nicht für Politik, sich aber dennoch über politische Entscheidungen aufregen. Das zeigt, dass sie keineswegs unpolitisch sind. Vielmehr fühlen sie sich von der aktuellen Politik nicht angesprochen oder wissen nicht, wie sie sich sinnvoll einbringen können.

Franke: Was macht es so schwer für Parteien, die jungen Wähler:innen zu erreichen?
Zentner: Viele junge Menschen finden keine politische Heimat mehr. Während es früher zumindest möglich war, sich von einer Partei zu distanzieren oder sich mit einer zu identifizieren, herrscht heute eine große Orientierungslosigkeit. Junge Menschen suchen oft nicht nach Gemeinsamkeiten mit den Parteien, sondern fokussieren sich darauf, was ihnen missfällt. Die Jugend ist offen und tolerant, aber sie sieht in den etablierten Parteien kaum noch Anknüpfungspunkte. Wir haben es hier mit einer Generation zu tun, die sehr individualisiert ist und ihre Informationen und ihre politischen Ansichten über soziale Medien und persönliche Netzwerke formt.

Franke: Hat das auch mit der Art und Weise zu tun, wie junge Menschen Informationen konsumieren?
Zentner: Absolut. Sie sind es gewohnt, Informationen sofort und individuell aufbereitet zu bekommen. Algorithmen kennen ihre Vorlieben und servieren ihnen die passenden Inhalte auf dem Silbertablett. Das führt zu einer Art „On-Demand-Politik“, bei der nur noch das interessiert, was direkt relevant für den Einzelnen erscheint. Die extreme Individualisierung, die wir heute erleben, erschwert es, eine breite Jugendansprache zu finden.

Franke: In Deutschland wird ein Rechtsruck unter jungen Menschen beobachtet. Ist ein ähnlicher Trend in Österreich denkbar?
Zentner: Ja, diese Tendenz zur Polarisierung ist auch in Österreich zu beobachten. Es gibt die Linksliberalen auf der einen Seite und die Rechtsbürgerlichen auf der anderen, die beide jeweils von der anderen Seite als extrem eingestuft werden. Die mittleren Parteien verlieren hingegen an Bedeutung. Das Medienverhalten trägt dazu bei, dass sich junge Menschen in digitalen „Echokammern“ bewegen. Dies kann die Attraktivität extremer Positionen erhöhen und die politische Landschaft weiter polarisieren.

Franke: Was könnte man tun, um dem entgegenzuwirken?
Zentner: Bildung ist ein zentraler Ansatz, aber nicht der einzige. Außerschulische Bildungsangebote und Räume für den freien Meinungsaustausch wie in Jugendzentren oder durch zivilgesellschaftliche Initiativen sind notwendig. Jugendliche müssen lernen, sich aktiv mit politischen Inhalten auseinanderzusetzen und Informationen kritisch zu hinterfragen. Wir müssen auch die Fähigkeiten fördern, dieses Wissen anzuwenden und in den politischen Diskurs einzubringen. Dabei ist es wichtig, dass sie verstehen, wie politische Prozesse funktionieren und welche Rolle sie selbst darin spielen können. Hier müssen Schule, außerschulische Bildung und Medien zusammenarbeiten, um ein breites Fundament an politischer Bildung zu schaffen.

Franke: Was sind die größten Herausforderungen in Bezug auf politische Bildung?
Zentner: Eine der größten Herausforderungen ist die Flut an Informationen, die junge Menschen heute bewältigen müssen. Anders als frühere Generationen sind sie einem ständigen Strom an Informationen ausgesetzt, was es schwer macht, wichtige von unwichtigen Nachrichten zu trennen. Das Bildungssystem muss darauf reagieren und jungen Menschen helfen, Medienkompetenz zu entwickeln.

Franke: Welche Rolle spielen die politischen Parteien in diesem Kontext?
Zentner: Die Parteien sollten verstehen, dass sie sich an den Lebensrealitäten junger Menschen orientieren müssen. Es reicht nicht aus, nur Themen anzusprechen. Sie müssen auch verstehen, wie junge Menschen leben, was sie bewegt und wie sie sich politisch ausdrücken möchten. Dazu gehört, dass sie auf Augenhöhe kommunizieren und bereit sind, zuzuhören. Die Bedürfnisse und Interessen der jungen Generation sollten nicht nur in Wahlprogrammen auftauchen, sondern auch in der alltäglichen politischen Arbeit sichtbar werden.

Franke: Gibt es bereits positive Ansätze oder Beispiele, wie das gelingen könnte?
Zentner: Beispielsweise haben einige Gemeinden erfolgreich Jugendparlamente oder Jugendbeiräte eingeführt, in denen junge Menschen direkt in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Auf europäischer Ebene gibt es Initiativen, die die Beteiligung junger Menschen fördern. Wichtig ist, dass diese Maßnahmen nicht nur symbolisch sind, sondern dass die Ideen und Vorschläge der Jugendlichen tatsächlich umgesetzt werden. Nur so lässt sich das Vertrauen in die Politik stärken und eine aktive Teilnahme fördern. Man muss ihnen das Gefühl geben, dass ihre Anliegen und Meinungen zählen und sie wirklich etwas bewirken können. Die Parteien und die gesamte politische Landschaft müssen lernen, flexibler und offener für neue Formen des Engagements und der Partizipation zu sein. Wenn dies gelingt, bin ich zuversichtlich, dass wir eine neue Generation von politisch interessierten und engagierten Bürger:innen gewinnen können.

Franke: Was passiert, wenn die Politik die Jugend weiterhin vernachlässigt?
Zentner: Dann riskieren wir eine weitere Entfremdung der jungen Generation von den politischen Institutionen. Das könnte langfristig zu einer Schwächung der Demokratie führen. Wenn immer weniger Menschen bereit sind, sich politisch zu engagieren oder überhaupt zur Wahl zu gehen, verlieren wir einen wichtigen Bestandteil unserer Gesellschaft. Die Politik muss dringend Wege finden, um die junge Generation wieder stärker einzubinden und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Nur so kann die Demokratie auch in Zukunft stark und lebendig bleiben.

Infos und Quellen

Genese

In Kooperation mit dem Zentrum für Medienwissen der Mediengruppe Wiener Zeitung (ZfM) entstand die Idee im Rahmen der Vorbereitung für das WZ-Engage-Event, der Frage nachzugehen, warum junge Menschen ihr Vertrauen in die Politik verloren haben. WZ-Redakteurin Verena Franke ist nämlich überzeugt, dass dieses Problem an den Parteien liegt, nicht an den Jungen.

Wenn dich u. a. dieses Thema interessiert, kannst du in einem Live-Austausch mit der WZ-Redaktion aktiv mitmachen und Inhalte mitgestalten. Melde dich für das WZ-Engage-Event am 14. September hier an.

Gesprächspartner

Manfred Zentner ist ausgebildeter AHS-Lehrer für Mathematik sowie Psychologie und Philosophie und seit 1996 in der Jugendforschung tätig. Von 1996 bis 2000 war er am Österreichischen Institut für Jugendforschung tätig, zunächst als Mitarbeiter dann in der Funktion des Geschäftsführers. Anschließend gründete er mit weiteren Expert:innen das Institut für Jugendkulturforschung, dem er bis 2013 angehörte. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems. Weiters ist er an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich als Vortragender in der Lehreraus- und -weiterbildung tätig. Er gehört dem Pool of European Youth Researchers (PEYR) an sowie den Jugendforschungssektionen der International Sociological Association (ISA) und der European Sociological Association (ESA). Zentner wirkte in mehreren EU-Expertengruppen zum Thema Jugend und Jugendarbeit mit (siehe z.B. “The Contribution of Youth Work in Migration and Refugee Matters”). Er ist Mitautor der internationalen Berichte des Europarats über die Jugendpolitik in Ungarn (2008) und Belgien (2011). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Jugendpolitik, außerschulische Jugendarbeit, Jugend- und Alltagskulturen, Radikalisierung Jugendlicher sowie Integration und Migration.

Daten und Fakten

Laut der diesjährigen Ö3-Jugendstudie, die vom Sozialforschungsinstitut Foresight wissenschaftlich begleitet und abschließend ausgewertet wurde, interessieren sich für Politik im engeren Sinn rund zwei Drittel der jungen Menschen. Bei Zukunftsthemen wie Klimawandel (77 Prozent), Pflege (79 Prozent) oder Bildung (73 Prozent) wurde dringender Handlungsbedarf geortet und kritisiert, dass zu wenig passiere. Auch mit Blick auf ihre eigenen Anliegen und Sorgen fühlten sich nur mehr 14 Prozent von der Politik gut vertreten. Das Vertrauen der Gen Z in die Politik fällt mit 19 Prozent dementsprechend gering aus. Vier Fünftel seien zudem pessimistisch für die Zukunft der Welt und jeweils rund 60 Prozent sehen für Europa sowie Österreich „eher schwarz“. Für das eigene Leben bleibe die Perspektive jedoch positiv: 83 Prozent sehen optimistisch in ihre Zukunft. Datengrundlage der Studie ist eine Online-Befragung, bei der insgesamt rund 30.000 junge Menschen teilgenommen haben. Für die Studie ausgewertet wurde die Zielgruppe der 16- bis 25-Jährigen, die zumindest 80 Prozent der Fragen beantwortet haben.

Quellen

  • Interview mit Manfred Zentner

 

Das Thema in anderen Medien


Quelle: https://www.wienerzeitung.at/a/warum-junge-menschen-sich-von-der-politik-abwenden